Kathrin Stalder

Ein Gespräch zwischen Kathrin Stalder und Nora Petersen

Am 13. September 2021 begegnet  ich zum ersten Mal persönlich der Künstlerin Kathrin Stalder, die in Basel bereits durch ihre Arbeiten aus dem Jahr 2011 bekannt ist. Damals gestaltete sie den öffentlichen Raum mit textilen Materialien, indem sie sowohl die Wettsteinbrücke als auch die Rheinfähre einstrickte. Bei meinem Besuch in ihrer Basler Wohnung, in der sie lebt und arbeitet, blieb mein Blick bereits im Eingangsbereich an Werken und kleinen Kunstobjekten gefangen, welche an den Wänden ihren Platz gefunden haben. Die ganze Wohnung ist wie eine kleine schöne Wunderkammer, in der es viel Kunst zu entdecken gibt. Kathrin Stalder erzählte mir von ihrem Werk «Heimat», was in diesem niedergeschriebenen Gespräch im Zentrum steht. Doch auch biographische Einblicke und weitere spannende Aspekte ihrer Arbeiten fanden im Gespräch und nun im folgenden Textauszug ihren Platz.

Erzählen Sie uns: Wie entstand das Werk «Heimat»?

Vor zwei Jahren wurde ich angefragt, ob ich eine Idee zu einem Gemeinschaftswerk für eine Ausstellung in Siegriswil im Paradiesli zum Thema «Fadenwerk» hätte. Meine spontane Antwort: Keine Ahnung, wirklich keine Ahnung! Doch zwei Tage später habe ich schon gewusst, was es sein könnte (lacht). Schon lange wollte ich einmal ein Haus bauen, ich wäre gerne Architektin geworden; Häuser gefallen mir. So kam mir die Idee, ein partizipatives Projekt zu starten in Form eines Stoffhauses, an dessen Wände bestickte Stoffplätzchen, von verschiedensten Menschen aus aller Welt, wie Schindeln angehaftet werden können. Thematisch sollte der Begriff «Heimat» im Zentrum stehen.

Wo fühle ich mich zuhause? Oder auch: Was bedeutet mir Heimat?

Mir sind diese Themen sehr wichtig, wir haben hier in der Schweiz ein «Schoggileben», während ganz viele Leute keine Heimat mehr besitzen. Wir leben in grossen Wohnungen, andere haben kaum einen Raum oder sogar nicht einmal ein Dach über dem Kopf.

Die Frage nach „Heimat“ lässt sich auch mit dem Thema des Hauses verbinden – ein wiederkehrendes Motiv meiner Arbeiten. So sind Haus und Heimat zusammengekommen und ich habe gedacht, dies sei ein schönes internationales Gemeinschaftsprojekt. In einem weiteren Schritt konnte ich über Facebook Leute animieren, – dort habe ich meine Projektidee beschrieben und sofort sind Reaktionen gekommen. Die Feedbacks waren von Anfang an positiv, viele Menschen waren freudig bereit mitzusticken. Engagierte Künstlerinnen aus Europa, Taiwan und Johannisburg meldeten sich.

Wie haben Sie die partizipierenden Menschen erreicht?

Vor allem über Facebook und meinen E-Mail-Verteiler. Ich habe Freundinnen und Freunde auf der ganzen Welt gefragt, was für sie Heimat bedeutet. Über Facebook und durch mündliche Weitererzählung wurde mein Projekt immer mehr verbreitet. Mein Eindruck ist, dass die Menschen im Ausland offener sind und schneller bereit waren, an einem Gemeinschaftsprojekt mitzusticken. Viele befanden sich im Lockdown und schrieben, wie froh sie seien, etwas gestalten zu können, ein Plätzchen zu sticken. Entstanden ist eine reiche Sammlung an Stoffstücken mit Begriffen, Sätzen und gestickten Formen. Ein grossartiges Erlebnis, wie Menschen jeglichen Alters und verschiedenster Religionen sich an meinem Projekt beteiligten. Mit einigen Partizipierenden stehe ich bis heute in Kontakt und bekomme dadurch einige Schicksale mit und erfahre viele persönliche Geschichten, was für mich sehr bereichernd und schön ist.  

Nun, Sie haben die Idee und dann die Nachricht in die Welt geschickt, aber zuerst mussten Sie ja noch überlegen welches Format, welche Farben…?

Jaja eben, ich bin immer sehr spontan (lacht). Ich habe eine Idee und denke weder an das Geld, noch daran, was es alles dazu braucht. Zuerst fragte ich einen Architektenfreund an, ob er mir das Hausgestell aus Holz, mit den Massen 1.80m hoch, 2m lang und 1.30m breit, bauen kann. Als Nächstes wurde der Stoff, welcher das Holzgestell überzieht, genäht.

Haben Sie vorgegeben, wie die einzelnen Stoffstücke sein sollen?

Die Leute durften nehmen, was sie wollten, der Stoff sollte einfach weiss sein. Jemand hat ein Taschentuch gewählt oder einige verwendeten Spitzendecken. Ich habe angegeben wie gross die Stoffstücke ungefähr sein sollen. Weisser Stoff und roter Faden, dies war wichtig.

Die Stickereien wurden so vielfältig; das individuell Persönliche kommt in unterschiedlichen Ausdrücken zur Geltung. Vielfältige Antworten von «L’Universo» über «family», «verwurzelt» bis zu «Glockenklänge» und «home is where you feel safe». Einige haben Motive gestickt, andere ganze Texte angebracht, weitere einen einzigen Begriff festgehalten.

Bei der ersten Ausstellung des Werkes «Heimat», habe ich die Stoffstücke nebeneinander einzeln angenäht, lockerer als jetzt, mit Zwischenräumen. Unterdessen sind über 350 Plätzchen zusammengekommen, sie hängen dicht wie Hausschindeln nebeneinander, teilweise sogar doppelschichtig. So kann eines angehoben werden, um die Sicht auf das untere Stoffstück freizugeben.

 

Wurden die Stoffplätzchen alle von Hand angenäht?

Genau, ich habe alle einzeln mit zwei Freundinnen in meiner Stube angenäht. Einige leere weisse Plätzchen heftete ich mit Sicherheitsnadeln an. Denn das Stoffhaus ist so konzipiert, dass es immer weiterwachsen kann und bezieht die Besuchenden mit ein: Die freien Stücke können abgenommen werden und jede*r Besuchende ist willkommen etwas zu «Heimat» mit rotem Faden auf weissen Stoff zu sticken.

Dies ist mir sehr wichtig, alle Leute dürfen mitsticken, es ist sogar sehr willkommen.

 

Haben Sie ein Verzeichnis, woher all die gesendeten Stoffstücke kommen?

Die Namen von allen Mitstickenden habe ich auf ein Band gestickt, um jedes zu würdigen, dahinter steht auch immer das Land. Das Stoffband ist recht lang geworden und wird immer mit ausgestellt. Es kann noch weiterwachsen, bisher sind noch nicht von allen Kontinenten Stoffplätzchen dabei.

 

Gibt es einen Beitrag oder eine Person, welche Ihnen in besonderer Erinnerung bleibt?

Was mich am meisten beeindruckt hat, ist die Geschichte einer Frau aus Armenien. Sie ist geflüchtet von Armenien über Syrien in den Libanon und hat dort drei Kinder geboren. Zwei von ihnen sind in der Schweiz, in Basel. Einer der Söhne lebt im gleichen Haus wie ich. Seine Mutter ist für einen Besuch hierhergekommen und während ihrer Besuchszeit in Basel war die enorme Explosion im Libanon. Damit ist ihre noch letzte Heimat verloren gegangen. Sie hat vier Stoffplätzchen gestickt für das Haus, dies berührt mich sehr. Eine Frau, welche eigentlich keine Heimat mehr hat…

 

Wie schaut nun der zukünftige Weg des Werkes aus?

Im Moment ist es noch in London ausgestellt und danach kommt es nach Basel in die Galerie Eulenspiegel. Das Werk wäre 2020 in Polen im Design Museum eingeladen gewesen. Ebenso in Taiwan; auch nach Südafrika wäre es weitergereist und ausgestellt worden, aber wegen Covid ging dies alles nicht. Deswegen möchte ich mich nun am Ende des Jahres dem weiteren Weg widmen und sehr engagiert schauen, wohin ich mit dem Häuschen weitergehen könnte. Falls es im weiteren Ausland nicht klappt, dann in der Schweiz oder in Deutschland. Ebenso würde ich gerne in der Elisabethenkirche in Basel anfragen. Dazu hätte ich die Idee, dass sich die Besuchenden reinsetzen können und darüber nachdenken, was Heimat für sie bedeutet: Wer hat mir in meinem Leben einmal Heimat gegeben oder wem habe ich sie gegeben? Die Menschen wären eingeladen ihre Gedanken, vielleicht eine ganze Geschichte niederzuschreiben, die dann im Haus zur Lektüre verbleibt.

Wie reist das Werk, wie können wir uns den Transport vorstellen?

Nach England konnte es per Post geschickt werden – also nur den Stoff in einem recht grossen Paket. Ich habe den Stoff zusammengelegt, mit all den angenähten Plätzchen, bis es klein genug war. Und das Holzgerüst wurde in London selber gebaut. Wenn der Weg bis zum Ausstellungsort nicht mit dem Auto machbar ist, muss das Holzhaus vor Ort nachgebaut werden, weil es viel zu schwer und teuer ist, das Holzgerüst zu versenden. Nach dem Originalplan des Architekten kann dies einfach neugebaut werden. Ich hoffe, dass die neuen Holzgerüste danach auch weitergebraucht werden können, als Kinderhaus zum Beispiel.

Zum Thema Heimat, bzw. zur Frage: Wo ist mein Zuhause?… Was ist für Sie persönlich Heimat?

Ich hab’ mehrere gestickt … Für mich ist es einfach immer das Schönste, wenn ich bei jemandem im Herzen Heimat finde. Zum Beispiel in Taiwan habe ich ganz viele Freunde und dort spüre ich: Hier bin ich zuhause. Es ist also nicht unbedingt da, wo ich herkomme. Und doch habe ich kürzlich ein Stoffplätzchen bestickt mit den Begriffen «Butter, Konfi und Brot». Dies war unser tägliches Abendessen auf dem Bauernhof, eine Kindheitserinnerung, auch das bedeutet irgendwie Heimat. Auf einem weiteren Stoffstück habe ich einen Bauch gestickt mit einem Häuschen drin, das war meine erste Heimat, im Bauch meiner Mutter.

Textile Materialien haben Sie schon vor Ihrer Arbeit als Künstlerin verwendet, hat dies auch etwas mit Ihrer Kindheit zu tun?

Ja genau. Meine Eltern waren sehr arm, ich war die Älteste von vier Kindern auf dem Bauernhof. Ich habe vor und nach der Schule gearbeitet, von dort weiss ich auch: arbeiten, das kann ich (schmunzelt). Mir fällt es leicht, viel zu arbeiten, ich musste im Laufe des Lebens eher lernen mal etwas nicht zu tun, ohne schlechtes Gewissen – also eigentlich bin ich immer noch am Lernen. Als Kind begann ich zuhause zu stricken und nähen, in der Schule hatte ich es gelernt. Ich war aber nie so exakt, ich mag es, wenn es etwas wild und daneben ist, bis heute (lacht).

Sie verbinden Menschenleben und deren Geschichten und bringen sie zusammen an einen Ort. Weswegen schätzen Sie diese partizipative Arbeit?

In der Kunst gibt es keine Grenzen. Alle zusammen können ein Werk mitgestalten. Hier gibt es keinen Krieg, keine Ausgrenzung – nichts. Alle können mitmachen, dies fasziniert mich. Hier sind wir gemeinsam. Ich kenne nichts, das mehr verbindet als die Kunst. Auch ist es mir ein enormes Anliegen, dass Menschen berührt werden. Allgemein in meiner Kunst möchte ich Menschen berühren und vielleicht auch zum Nachdenken anregen, gerade auch zum Thema Heimat. Das Haus darf weiter wachsen, vorläufig, ich weiss nicht, wann wir mal aufhören.

Erzählen Sie uns, wie verlief Ihr künstlerischer Weg, wann haben Sie angefangen?

Seit zehn Jahren arbeite ich als Künstlerin, jetzt bin ich 72, also eine junge Künstlerin – oder wie sagt man das? (lacht). Ich habe immer für mich gearbeitet, irgendwann hat mich eine Freundin angefragt und gesagt: Komm doch nach Taiwan, du kannst hier eine eigene Ausstellung machen. Ich habe zuvor gar nie daran gedacht, eine Ausstellung zu realisieren. In meinen künstlerischen Arbeiten erforsche ich auf vielfältige Weise Spuren des Lebens. Manchmal kommt mir plötzlich eine Idee, sogar während des Putzens. Dann muss ich stoppen und sofort anfangen. Ich spiele, probiere Verschiedenes aus.

Welche Ausstellung wartet als Nächstes auf Sie?

Vor der Ausstellung in der Galerie Eulenspiegel im November gehe ich noch nach Bregenz in eine Galerie. Riesig! – So gross hab’ ich noch nie ausgestellt. Und nächstes Jahr werde ich in einer Galerie in Mailand ausstellen. Doch das Beste ist, ich habe nie ein Konzept. Am Anfang hat mir jemand gesagt, ich sei Konzeptkünstlerin, ich hab’ nicht einmal gewusst, was das ist (lacht). Ach, ich habe so keine Ahnung (schmunzelt). Wir sind komplett ohne Kunst und Kultur aufgewachsen auf dem Bauernhof. Ich habe bei meiner früheren Arbeit viel handwerklich hergestellt für Basare, doch ich war nie in einem Museum. Ich war bereits 42 Jahre alt, als ich das erste Mal eine Galerie besuchte. Das darf man fast nicht laut sagen. Doch zum Glück ist es so geschehen, dass ich damals in die Galerie Beyeler reinschaute. Bei diesem ersten Ausstellungsbesuch bin ich innerlich fast explodiert. Gerade kurz davor habe ich angefangen Collagen zu gestalten und dann kam ich in diese Galerie rein und sah eine Collage von Kurt Schwitters und dachte als Erstes: Wow, der macht das ja auch! (lacht) Ich hatte so keine Ahnung von Kunst und Künstlerinnen. Doch von da an hat es mir den Ärmel reingenommen und ich ging von Galerie zu Galerie und von einem Museum zum nächsten. Heute weiss ich recht viel, es interessiert mich einfach sehr.

Druck, Holz, Collagen… Sie verwenden viel unterschiedliches Material. Wie kommen Sie zu der Auswahl?

Ich habe eine Idee und dann probiere ich viel aus, dazu gehört es auch, Versuche wieder wegwerfen zu müssen. Bei einer neuen Arbeit habe ich mich mit Kreide, Gips und Zement ausprobiert. Manchmal kommt es gut, manchmal nicht. Ich spiele viel und ich arbeite auch mit gefundenen Materialien. Eine Arbeit besteht aus alten Ordnerringen, jene habe ich im Müll gefunden bei einem Bekannten. Er hat alte Aktenordner verbrannt, die Stahlringe blieben übrig, waren vom Feuer aber geprägt. Ich gab dem Werk den Titel: «Ein Jahr und was bleibt?». Das erinnert mich selber immer wieder daran: Nicht alles, was ist, so wichtig nehmen! Auch Schmuck habe ich aus Fundstücken hergestellt, Pfeifen aus der Themse, die zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert geraucht wurden. (Zeigt Ihre Fingerringe). Dieser hier entstand ebenfalls aus einem Fundobjekt, aus Taiwan. Ich konnte einen Silberring herstellen und habe ein Holzhäuschen daran befestigt, im Silberteil steht eingeprägt: «married with art», dies ist mein Hochzeitsring (lacht). Das ist ein sehr treuer Mann (schmunzelt erneut).

Jetzt möchte ich noch besser lernen mit Cyanotypie zu arbeiten. Oder auf Musikrollen habe ich auch gedruckt, dieses Lochpapier, oh und hier sind noch Siebdrucke..(Streift in ihrer Wohnung umher und zeigt mir dies und jenes).

Sie haben mir erzählt, Sie seien manchmal so berührt von Kunst, dass Sie gar keine Worte dazu finden können. Kommen Sie in einen ähnlichen Zustand, wenn Sie selber künstlerisch tätig sind?

Hm nein, eher das Gegenteil. Vielmals komme ich in Zweifel, wenn ich andere Kunstwerke sehe. Dann denke ich: Was mache ich eigentlich? Warum werde ich eingeladen auszustellen? In diesen Momenten atme ich tief durch und sage mir: Ich muss ja nichts, ich mache es für mich und wenn es jemanden sonst noch gefällt, freut es mich, aber es muss nicht.

Wenn ich an Ausstellungen gehe oder an die Art Basel, geschieht es durchaus, dass ich ganz berührt bin von Kunstwerken. Dies kann emotional sehr stark sein. Zum Beispiel Lawrence Carroll; seine Werke gefallen mir sehr. Ich kann gar nicht sagen oder beschreiben warum mich gewisse Dinge so ansprechen. Seine Werke berühren mich, er ist ein sehr demütiger Mensch. Agnes Martin mag ich auch sehr. So auch Rauschenberg. Die habe ich einfach gern.