Manfred Cuny

Manfred Cuny im Gespräch mit Nora Petersen

Welche künstlerischen Themen beschäftigen Sie? 

 Sehr allgemein gesagt ist mein Erleben, dass Menschen, Tiere, Dinge, Materialien anziehend sind.   Ich berühre etwas, es ist attraktiv.   Doch das, was da ist, ist nicht festlegbar.   Ein Apfel ist ein Apfel – aber er ist, nur weil ich ihn benennen kann, nicht weniger geheimnisvoll.   

Wie kommen Sie auf Ihre häufig gewählten Motive wie Tische oder Äpfel?

Eigentlich sind all diese Motive für mich wie Menschen. Es sind Figuren. Ein Tisch nimmt seinen Platz ein – das macht ein Mensch auch, oder?   Birnen können stehen oder liegen, das kann ich auch.  Ein Apfel ist rund wie ein Kopf, und er hat oben und unten eine Vertiefung, die mich anschaut wie ein Auge.    Von den Tischen bin ich zu den Pferden gekommen  –  weil die einen wie die anderen je vier Beine haben.  Oder von den Pferden zu den Tischen?  Jedenfalls sind auch Pferde für mich in einem Bild nur eine weitere Sorte von Menschen.        

Man könnte viele dieser Bilder als «Stillleben» bezeichnen.  Allerdings fällt auf, dass, anders als in den meisten Stillleben, wo verschiedene Objekte zusammengestellt gezeigt werden, es bei mir nie ein Bild gibt, wo zum Beispiel ein Apfel undeine Birne dargestellt sind.  Wahrscheinlich deswegen, weil ein Apfel, auf der «Bühne» meines Bildes, die Rolle eines «Menschen» einnimmt; weshalb es störend wäre, wenn da nun auch noch eine Birne auftreten würde mit dem Anspruch, dieselbe Rolle spielen zu wollen.

Bilder und Skulpturen sind etwas wie Gedichte.  Auch sie zeigen, dass alles, was uns in der Welt begegnet, diese Rolle des Menschlichen annehmen und verkörpern kann.

Meine Motive sind für mich attraktiv, weil ich sie nicht «im Griff» habe. Sie lassen sich nicht festlegen und so bin auch ich nicht festgelegt.  Erst durchs Malen oder Skulptieren merke ich nach und nach, worauf es bei der Arbeit, die gerade entsteht, ankommt.  Manchmal merke ich das erst in der letzten halben Stunde, bevor ich mit der Arbeit aufhöre!

Hat man ein geeignetes Motiv gefunden, kann man Erleben wie es die Gestalt von etwas Grösserem, etwas Zunehmendem annimmt.   Zu erleben, wie knifflig es ist, etwas ganz Simples zu malen – wie, wieder einmal, unerwartet widerständig sich das Motiv verhält – das ist ärgerlich, das lohnt sich irgendwie.  

Nun möchte ich aber trotzdem nochmals nachfragen.  Als Motiv kommt bei Ihnen sehr häufig die Nase vor, wieso ist es nicht ein Ohr beispielsweise ?   Spielt dies eine Rolle ?

Ein Motiv muss praktisch sein.   Es gibt unpraktische Motive.  Ein Tier wie zum Beispiel der Breitstirnwombat – das kennt man nicht.   Es kann nicht, wie ein Pferd, wiedererkannt werden. Man muss etwas malen, was so einfach ist, dass alle einsteigen können. Für den Betrachtenden sollte kein Rätselraten entstehen, was das Dargestellte jetzt sein könnte. Die Wiedererkennbarkeit des Motivs ist wichtig  –  dank ihr wird erst deutlich, inwiefern mein Bild, meine Skulptur vom bloss Wiedererkennbaren abweicht.

Eine Nase finde ich interessant wegen ihrer Ausrichtung.   Die Nase steht senkrecht im Gesicht – so wie ein ganzer Mensch senkrecht dasteht.  An dieser Senkrechten kann ich mich orientieren.  Somit habe ich ein Motiv, mit dem ich «Orientierung» thematisieren kann.  Zudem ist die Nasenspitze der vorderste Punkt des Gesichts.  Auch das gibt Orientierung.

Sie haben mir erzählt, dass Sie eine Faszination für Verkehrsschilder haben, mögen Sie dies erläutern? 

Ich bin ja seit Jahrzehnten mit dem Fahrrad unterwegs.  Mir ist im Lauf der Zeit aufgefallen: Die Malerei spielt einerseits keine Rolle in unserem Alltag – andererseits sind die Verkehrsschilder diejenigen «Malereien», welche alle Menschen jeden Tag anschauen – oder   anschauen müssen! Man ist von dieser Art von Bildzeichen, diesen farbigen Signalen, abhängig.  Die Farben der Ampel entscheiden sogar über Leben und Tod.  Wo sonst haben Farben solch eine Bedeutung für die Menschen?  Dieser Malerei folgen alle, sie ist die Malerei, die zählt  –  also muss ich mich doch dafür interessieren  (lacht).

Auf die runde Bildträgerform bin ich durch die Verkehrsschilder gekommen.   Das runde Bildformat interessiert mich, weil mit ihm das Bild selbst, durch die Ausrichtung der gemalten Formen, vorzeigen muss, wie das Gleichgewichtsverhältnis gefunden werden kann.  Einem runden Bild ist deshalb ein etwas prekäres Gleichgewicht eigen – und so wird mein Thema anschaulicher –  das Thema eines gewissen Schwebezustands.

Durch welche Kunstschaffende wurde Ihre Arbeit beeinflusst?

Einflüsse – davon gibt es unüberschaubar viele!    Sie alle bereichern meine Sichtweise.   Trotz all den zahllosen Eindrücken ist klar, welche die wichtigsten waren:   Giacomettis Werk und dasjenige von Picasso und Braque, also der Kubismus.  Seltsamerweise hat mich auch Newman ein bisschen geprägt  –  man sieht es, wenn man es weiss.

Ich erinnere mich an einen Text, den ich vor ungefähr 40 Jahren gelesen habe.  Ein Bericht über einen Besuch von Giacometti in einer privaten Kunstsammlung.  Er sieht dort eine antike Marmorskulptur –  eine kleine Kykladen-Figur  –  , nimmt sie in die Hand, und sagt:  «Flach und rund, rund und flach  –  wenn einem das gelingen würde – – – !».   Diese Szene kommt mir seither öfters in den Sinn.

Sie haben mir gesagt, bei Ihren Arbeiten gehe es immer um Bewegung  –  mögen Sie dies erläutern?

Kontraste im Bild bewirken den Anschein von Bewegung.   Ich arbeite  –  so wie alle Maler oder Bildhauer  –  mit Kontrasten.  Alles, was man im Atelier macht, kreist um die Frage, wie  die für die jeweilige Arbeit notwendigen Kontrastwirkungen bewerkstelligt werden können.  Um das zu verdeutlichen, kann man sich fragen, ob es ein Bild gibt, das keine Kontrastwirkung, und somit keine «Bewegung» enthält.  Malewitsch hat das, glaube ich, versucht, mit seinem «Schwarzen Quadrat».  Gelungen ist es ihm nicht  –  auch dieses Werk gibt noch ein wenig Anschein von Bewegung, wegen dem Kontrast von schwarz zu weiss, grösser zu kleiner, vorne zu hinten.    Selbst mit dem «Weissen Quadrat auf weissem Grund» hat Malewitsch das absolut Bewegungslose nicht einfangen, nicht malen können.  Kontrastwirkungen zwischen Farben, Formen, Materialien, zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen, ermöglichen also, das Thema «Bewegung» anschaulich zu machen.   Mit «Bewegung» ist auch  ein Zustand der Unsicherheit, des Übergängigen, des sich Wandelnden gemeint.   Dass etwas nicht ganz ausgesprochen, noch nicht ganz angekommen ist. Es ist noch nicht das Ender der Reise. Ein Bild soll immer in Bewegung bleiben.

Ein Zitat von Ihnen: «Als Bildhauer interessiert mich weder das Material, noch die Form, noch das Sujet. Nur das In-Eins-Fallen dieser drei Komponenten interessiert. Zu einem «Spannungszusammenhang» verbunden, machen sie das Thema des Werks anschaulich.»

Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass das Material, welches ja so essentiell ist, keine Rolle spielt …

Dieses Zitat enthält meine Auffassung von dem, was Kunst für mich ist.           

Wenn ich da betone, dass mich weder dies noch jenes interessiert, ist das auch eine Art Abwehr, eine Abgrenzung gegenüber voreiliger Zustimmung.   Ich interessiere mich nicht für Äpfel, für Tische, oder Pferde. Das Motiv ist wichtig – aber nicht als dasjenige, was man sich, im Alltag, unter einem «Apfel», einem «Pferd», einem «Tisch» vorstellt.  Es ist wichtig, weil es eine der drei Komponenten, einer der drei «Ermöglicher» ist, die, alle zusammen, ein Kunstwerk bilden  –  falls das Werk gelingt.   Dasselbe gilt für Materialien.  Ich habe einmal eine Skulptur aus Marmor ausgestellt, und dann sagte mir ein Besucher: «Ah, wissen Sie, eine Skulptur aus Marmor –  das finde ich immer schön.»   So eine Aussage ist natürlich nicht gerade ein Kompliment für einen Bildhauer.  Das Material ist wichtig, weil es auch einer dieser drei «Ermöglicher» ist.  Aber es allein, für sich betrachtet  –  ist mir völlig gleichgültig.    Und bei von mir gestalteten Formen ist es wieder dasselbe –   sie sind nur als untrennbarer Teil eines Ganzen von Interesse.   Es geht mir nicht um runde, oder um eckige, oder um irgendwelche sonstigen Formen!

Was ist denn das, was Sie interessiert?  

Es geht um das Thema einer Arbeit.  Die drei Komponenten zusammen, als Spannungszusammenhang, machen das Thema anschaulich.   Das Thema wird oft verwechselt mit dem Motiv.  Zwei Arbeiten können aber verschiedene Motive, Gegenstände zeigen und dennoch fast dasselbe Thema veranschaulichen.  

Das Motiv kann mit einem Wort benannt werden.  Man kann sagen :  «Dieses Bild stellt einen Apfel dar.»   Aber das Thema dieses Apfel-Bildes kann nicht mit einem Wort benannt werden.   Das Thema ist nicht ein Gedanke, sondern eher ein bestimmtes Lebensgefühl, eine Einstellung gegenüber dem Leben. Meine Einstellung natürlich, aber diese meine Einstellung ist mir gar nicht ganz bewusst. Es ist eine Stimmung, etwas Atmosphärisches.  Etwas, worin ich drin bin.      Dies kann ich gar nicht in Worte fassen  –  deswegen muss ich es eben malen.

Wie kommen Sie zu Ihren Arbeitsmaterialien ? 

Materialien für Skulpturen, oft auch Bildträger, sind meistens Zufallsfunde.  Ich wohne in der Stadt, wo Strassen aufgerissen werden und Baumulden mit allerlei Zeug gefüllt werden.  Ich schaue in jede der Mulden, an denen ich vorbeikomme, und entnehme ihnen Betonelemente  oder -röhren, Steine, Metallteile, Plastikteile… Vieles nehme ich auch vom Sperrmüll mit.    

Oft gibt mir das Materialstück schon im Moment, wo ich es aus der Mulde fische, eine Idee, was ich mit ihm anstellen könnte.   

Können Sie beschreiben, wie die Wandlungen der zeitgenössischen Kunst Sie oder Ihre Arbeit beeinflusst haben?

Ich bin nicht einer jener sehr wachen Menschen, die in die jeweilige Gegenwart eintauchen und in ihr schwimmen können wie ein Fisch.  Ich will damit nicht sagen, dass ich nur weltfremd nebenher lebe  –  aber wenn ich, probeweise, künstlerisches Schaffen danach beurteilen würde, ob es «zuvorderst» ist, würde ich meine Arbeiten dort nicht sehen.   –   Aber die Einteilung zwischen «vorne» und «hinten» ist ja nur eine von vielen möglichen.  Der Zeitgeist und ich:  Sind wir verheiratet, oder sind wir geschiedene Leute?   Weder  –  noch.  Ich kann es nicht sagen.     Offensichtlich gibt es Milliarden Arten, wie man heute hier sein kann !  Und für einen Künstler gibt es so viele Möglichkeiten, wie vielleicht noch nie zuvor.   Jedenfalls kann ich mir, selbstverständlich, keine andere Zeit vorstellen als die heutige, in der jene Menschen leben, mit denen ich verbunden bin.

Können Sie dieses Gefühl von diesem Moment beschreiben, wenn klar wird, jetzt ist dieses Werk abgeschlossen, jetzt bleibt es so.  Wie fühlt sich dies an, von wo kommt das Gefühl ?  

Das ist eine gute Frage, spontan weiss ich das jetzt gar nicht.  (Pause)

Diesen Punkt lässt sich nicht endgültig beschreiben, er variiert zu stark von einer Arbeit zur anderen.

Ich beschreibe aber gerne meinen Arbeitsprozess…

Ich bin meistens sehr langsam, die Skulpturen brauchen lächerlich viel Zeit.    An einem Bild arbeite ich schneller, weil die Ölfarben es nicht mögen, immer wieder überarbeitet zu werden. Vor allem will das Bild nicht, dass es nur an einigen Stellen verbessert wird. Deshalb schleife ich das ganze Bild an, bevor ich es umbaue.   Ich kann nur am ganzen Bild malen, nie nur an einem Detail.  So, mit diesem Vorgehen, kommt es auch bei Bildern vor, dass ich einige Male, oft mit mehrmonatigen Pausen, wieder etwas ändere daran.  Ab und zu habe ich Glück, und ein Bild gelingt auf Anhieb.  

Es kommt vor, dass ich gegenüber einem Bild unnötig misstrauisch bin.  Das ist wie eine fixe Idee, dass ich noch dieses oder jenes ändern muss daran.  Da hilft dann Distanz- das Wegstellen des Bildes, oder auch eine spontane Äusserung eines Atelierbesuchers, wodurch mir mein Werk in einem neuen Licht gezeigt wird.      

Bei Skulpturen ist die Arbeitsweise anders insofern, als deren Materialien es aushalten, dass ich beliebig oft etwas ändere an ihnen.  Sie sind nicht so ungeduldig wie die Ölfarbe, die schon nach einigen Stunden Bearbeitung zu ermüden beginnt.   –   Witzig ist übrigens, dass mich manchmal eine kleine Skulptur viel länger beschäftigt als eine andere, die drei-, viermal grösser ist.   

Ich arbeite phasenweise.  Einige Monate bin ich ausschliesslich am Malen, und dann wieder an Skulpturen. Verzettle ich mich?   Es ist so gekommen, dass die zwei Medien sich kreuzen in mir, es ist nun zu spät, sich «entscheiden» zu wollen… In meinen Augen gehts in den beiden Künsten fast um «dasselbe»:  beim Malen darum, einen Bildraum zu kreieren, der Rundung, eine Tiefe ermöglicht und beim Bildhauen darum, eine von mehreren Seiten her überzeugende «Farbform» hinzustellen-  also vice-versa.    Ausserdem:  Eine Skulptur regt mich zu einer Malerei an, und diese ruft wiederum nach einem plastischen Pendant… Die zweigleisige Produktion ermöglicht, langsam ein Netz von Bezügen von der einen Arbeit zur nächsten zu knüpfen.  

Meine Arbeitsweise ist unsystematisch.  Ich gehe ins Atelier, und mein Blick streift über das, was ich dort antreffe, oberflächlich.  Und dann fällt mir, nur am Rand, nur im Augenwinkel, auf, dass da etwas ist, das eine Unzufriedenheit auslöst.  Absurd kleine Details, die, wenn ich sie dann geändert habe, die ganze Skulptur «enorm» – so kommt es mirwenigstens vor! – aufwerten.   Ich bewege mich also, im Atelier, entlang meiner Unzufriedenheiten.    Am meisten Spass macht es, wenn ich bei einer Skulptur, die ich während, sagen wir, zwei Jahren als okay eingestuft hatte, plötzlich sehe, dass sie blöd ist!   Spass oder Freude macht mir diese Entdeckung deshalb, weil sie mir ein Gefühl gibt, dass ich noch Anderes als bisher zu sehen vermag.  Ich bin dann vielleicht zuerst ratlos, was nun zu tun ist  –  aber in solchen Fällen ist die Unzufriedenheit gross genug, um bald einen neuen Einfall hervorzurufen, der der Sache weiterhilft. Wenn ich mir zuhöre, wie ich über meine zwischen «okay» und «blöd» hin und her schwankende Einschätzung meiner Arbeiten rede, muss ich lachen. 

Wie helfen Sie sich in den Momenten, wenn Sie plötzlich denken:   Was mache ich da eigentlich?   Was soll das?

Ich bin heute ein bisschen stabiler als früher  –  früher bin ich öfter abgestürzt.  Ich lache und denke nicht mehr so schwerwiegend über den Sinn oder Unsinn meiner Tätigkeit nach. Mit dem Humor habe ich ein Stück Boden unter den Füssen.

Dennoch sind gewisse Fragen nicht zu beantworten.   Klar weiss ich kaum, wer ich bin, warum ich das tue.   Es geht mir gut, ich interessiere mich für das, was ich tue, ich kann nichts Anderes, ich mache das, es ist nun mal so.