Dario Santacroce

Fragmente der Zeit
Bildhauerische Meditation über Venedigs materielle Erinnerung

In seiner neuesten Skulpturenserie erforscht Dario Santacroce die vielschichtige materielle Geschichte Venedigs und verwandelt Fragmente von Stein und Marmor in eine kontemplative Auseinandersetzung mit Zeit, Verfall und menschlichem Eingriff. Bekannt für seine Suche nach reinen Formen und seinen innovativen Einsatz von 3D-gedrucktem Stein, richtet Santacroce in dieser Werkreihe den Fokus auf die rohen, verwitterten Überreste der architektonischen Vergangenheit der Stadt. Diese gesammelten Fragmente – von Portoro-Marmor bis hin zu istrischem Kalkstein – sind nicht nur Überbleibsel, sondern Träger von Erinnerungen, in denen sich Erosion, Handwerkskunst und der Lauf der Jahrhunderte widerspiegeln.

Santacroces künstlerisches Schaffen ist seit jeher in den metaphysischen Dimensionen der Skulptur verankert, in denen Zeit sowohl als Thema als auch als Medium fungiert. Seine früheren Werke, wie Spherical Creations und Eternal Half, verdeutlichen sein Streben, die Wahrnehmung von Zeit durch Form und Material zu erforschen. In dieser Serie verfolgt er jedoch einen eher archäologischen Ansatz, indem er Fragmente von Orten wie den Giardini der Biennale von Venedig und der Fassade der Accademia di Belle Arti di Venezia bezieht. Jedes dieser Stücke ist ein Zeugnis des fortwährenden Dialogs zwischen Natur und Architektur in Venedig, einer Stadt, in der die salzhaltige Luft und das Wasser die gebaute Umwelt kontinuierlich umgestalten.

Die Fragmente erzählen ihre eigenen Geschichten: Eine kleine Platte aus Portoro-Marmor, mit ihrem tiefschwarzen Ton und den goldenen Adern, erinnert an den Luxus des frühen 20. Jahrhunderts; ein verwittertes Stück Verde-Alpe-Marmor verweist auf die ständige Einwirkung der Elemente; kantige Bruchstücke von der Fassade der Accademia offenbaren die zerstörerische Wirkung des Frost-Tau-Wechsels, der zur allmählichen Zersetzung der Struktur führt. Durch die Isolierung und Präsentation dieser Materialien fordert Santacroce die Betrachter auf, über die Vergänglichkeit selbst der dauerhaftesten Bauwerke nachzudenken.

Diese Serie markiert eine Abkehr von Santacroces früherem Fokus auf idealisierte Formen. Stattdessen nimmt er die Unregelmäßigkeiten und Unvollkommenheiten dieser Fragmente bewusst an und lässt ihre natürliche Zersetzung für sich sprechen – als Metapher für Entropie und Transformation. Indem er dies tut, würdigt er nicht nur die in diesen Materialien verankerte Handwerkskunst, sondern unterstreicht auch die Flüchtigkeit menschlicher Schöpfungen.

Durch die Präsentation dieser Fragmente in einem zeitgenössischen skulpturalen Kontext überbrückt Santacroce die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Material und Erinnerung. Sein Werk dient als eindringliche Erinnerung an das fragile Gleichgewicht zwischen Bewahrung und Verfall und lädt dazu ein, über die sich ständig verändernde Beziehung zwischen Menschheit und architektonischem Erbe nachzudenken.

Mit dieser Serie setzt Santacroce seine Erforschung der Zeit fort – nicht als linearen Verlauf, sondern als zyklische Kraft, die unsere physische und kulturelle Landschaft formt und umgestaltet. In den verwitterten Oberflächen und gebrochenen Kanten dieser Fragmente erkennen wir ein Spiegelbild unserer eigenen Vergänglichkeit – und eine Einladung, uns intensiver mit den in unserer Umgebung eingebetteten Geschichten auseinanderzusetzen.

Spherical Creations

Es gibt eine Ahnenver-bindung zwischen dem Spirituellen, das ausserhalb der Zeit ist, und dem Zeitlichen in der Welt. Dieser Verbindung gilt seit langem der Schwerpunkt meiner bildhauerischen Arbeit. Mein Denken ist stark von Platons Ideenlehre geprägt. Der Philosoph macht geltend, dass vollkommene Urformen lediglich im Bereich der Gedanken existieren können. Die greifbaren Gegenstände der materiellen Welt sind bloss unvollkommene Abbilder jener idealen Form. Im Laufe meiner bildhauerischen Arbeit habe ich immer wieder die frustrierende Erfahrung gemacht, wie zutreffend diese Theorie ist. Mein Wunsch, schöne und exakte, wenn auch einfache, geometrische Formen zu schaffen, erwies sich in der Ausführung als äusserst schwierig.

«Spherical Creations» ist eine zeitgemässe Verkörperung von Platons Urbildern, eine Wegmarke auf der nie endenden Suche nach Vollkommenheit – in Form und Abschluss. Eine vollständige Darbietung vom Mentalen bis hin zur Manifestation. 

Der Künstler

Mit einfachen Formen und Stein erkundet der Bildhauer Dario Santacroce die Zeit als Metapher, Theorie, Erfahrung und Idee. Im Alter von 16 Jahren trat er bei Carlo Ambrosoli, Professor an der Academia di Belle Arti in Rom, in die Lehre ein. Hier entdeckte er, dass sich die Grenzen zwischen dem, was wir erklären können, und jenem, was unerklärt bleibt, in einer Grauzone verwischen.

Weitere Lehren machte er bei Manuel Neri, Robert Gove und Lode Tibos. Dabei erlernte er die Techniken der Marmorbildhauerei, die es erlauben, eine grosse Spannbreite von Werken umzusetzen: von klein und intim bis hin zu wuchtig und monumental. Santacroce hat sich nun in seinem eigenen bildhauerischen Universum etabliert – eine Welt reich an Symbolen und Archetypen, in der Stein die zentrale Metapher für die zeitliche Wahrnehmung ist. Die Erkundung der Wahrnehmung als eine fliessende, sich verändernde Erfahrung wurde für Santacroce zu einer Antriebskraft, die ihn an Stein als Material heranführte. Heute bedient er sich ausserdem neuester Technologien, um seine Visionen zu verwirklichen. Santacroces Werke wurden bereits in ganz Europa sowie in den USA ausgestellt.